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Dokumente zur Thematik Verdingkinder, Heimkinder, Pflegekinder, Fremdplatzierung, Kindswegnahmen, Erziehungsanstalten

Artikel aus der Thurgauer Zeitung vom 7. Februar 2006:

Dienstag 7. Februar 2006

Jahre des Verdrängens sind vorbei

Verdingkinder, Heimkinder und andere Formen der Fremdplatzierung bilden ein dunkles Kapitel in der Sozialgeschichte der Schweiz. Dass dieses nicht in Vergessenheit gerät, dafür setzt sich die Münchwilerin Heidi Meichtry ein.

CHRISTOF LAMPART


Münchwilen - Ein gemütliches Wohnzimmer mit viel Holz, ein schmiedeeiserner Ofen, ein Pfau auf einem Bild. Der Kaffee kocht in der Küche. Idyllisch ists. Doch das war nicht immer so, im Leben der ehemaligen Berufsberaterin und Erwachsenenbildnerin Heidi Meichtry, welche seit bald drei Jahren pensioniert ist. Dass sie im Unruhestand lebt («mein Mann besorgt den Haushalt und kocht für mich»), hat mit ihrer Vergangenheit zu tun, die alles andere als idyllisch verlief. Denn ihr Vater war ein Verdingkind. Und das prägte auch ihre Kindheit. «Das Beste, was er für mich getan hat, war, dass er 20-jährig nach Zürich floh und sich dort versteckte. Stadtluft macht ja bekanntlich frei.» Ihre Eltern waren «harte Arbeiter», doch leider auch ebenso strenge Erzieher. Ihr Vater schlug sie mehrmals blau und blutig - und die Mutter mahnte sie immer, dem Vater zu verzeihen. Denn schliesslich sei dieser im Armenhaus aufgewachsen und habe in der Kindheit nie Liebe erfahren. «Man hat mir somit sogar meine Wut gestohlen.» Ihr Vater ist schon lange tot, doch verziehen hat sie ihm nie.

Die ganze Schweiz informieren

So sei sie also, obwohl sie nicht ein Verdingkind wie der Vater war, fürs Leben geprägt und gezeichnet gewesen. Genauso wie Hunderttausende von anderen Menschen, welche direkt oder indirekt ausgenutzt und diskriminiert wurden. Oder deren Grosseltern, Eltern und Kinder. Aus diesem Grund half Heidi Meichtry im Herbst 2004 die Vereinigung «Verdingkinder suchen ihre Spur» ins Leben zu rufen. Mittlerweile versieht sie das Präsidentinnenamt und die Geschäftsleitung in Personalunion. «Das ist ein 80-Prozent-Job», erzählt sie nüchtern. Doch sie macht es gerne, denn sie hat sich zum Ziel gesetzt, Information und Aufklärung in Sachen Verding- und Heimkinder in die ganze Schweiz hinauszutragen. Denn es seien damals nicht nur einzelne schwarze Schafe gewesen, welche den Kindern die Menschenwürde geraubt hätten. «Dahinter steckten meistens Behörden und deren Vertreter, vom Schweizervolk eingesetzt und mit dem Vertrauen ausgestattet, dass sie dem Wohle aller Menschen dienen würden.»

Nächstenliebe im eigenen Interesse

Viele der Vereinsmitglieder erzählten im persönlichen Gespräch entsetzliches: grausame Körperstrafen, brutale Misshandlungen, sexuelle Ausbeutung, Ein- oder Aussperrungen, Erniedrigungen und vernichtender Spott. Nicht nur Direktbetroffene, sondern auch deren Nachkommen hätten dermassen unter der Vergangenheit gelitten, dass sie - wenn auch gegen aussen hin erfolgreich im Leben stehend - oft nur eine Lösung durch Selbstmord sahen. Heidi Meichtry verlor so zwei Brüder. «Wir wollen erreichen, dass sich die offizielle Schweiz bei all jenen entschuldigt, denen Unrecht angetan wurde», so Meichtry. Es gelte aus den Vorgängen von einst die Lehren für das Heute zu ziehen. Denn auch im 21. Jahrhundert sei noch lange nicht alles zum Besten bestellt. Schliesslich, so Meichtry, fänden sich in den Zeitungen immer wieder Artikel von prügelnden Erziehern, von sexueller Ausbeutung in Heimen und sadistischer Behandlung von Pflegeeltern. «Nächstenliebe ist kein altmodisches Wort, sondern in unserem ureigenen Interesse. Denn jede verletzte Kinderseele wird spätestens in erwachsenen Jahren zur schweren Belastung für die Gesellschaft», hat Meichtry erkannt.
Infos: www.verdingkinder-suchen-ihre-Spur.ch oder Heidi Meichtry unter heidi.meichtry@ bluewin.ch kontaktieren.

Verdingkinder suchen ihre Spur!

Mittlerweile gehören der Vereinigung «Verdingkinder suchen ihre Spur» 150 Voll-, Passiv- und Gönnermitglieder an. 500 sollen es werden, damit die politische Durchschlagskraft erhöht werden kann. Kein aussichtsloses Unterfangen, wurden doch alleine im Thurgau 50 Prozent aller «platzierten» Kinder als Verdingkinder eingesetzt. Vollmitglied kann nur werden, wer selbst Verdingkind war, oder jemanden in seiner Familie hat/hatte, der Verdingkind war. Zurzeit ist bei Bundesrat Pascal Couchepin ein Gesuch um die Finanzierung einer eigenen Geschäftsstelle hängig, welches unter anderem von der Regierung des Kantons Zürich und der Nationalrätin Jacqueline Fehr (SP/ZH) unterstützt wird.


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