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Dokumente zur Thematik Verdingkinder, Heimkinder, Pflegekinder, Fremdplatzierung, Kindswegnahmen, Erziehungsanstalten

Auszüge aus "Der Bauernspiegel" von Jeremias Gotthelf, 1837

Die fiktive Autobiografie des Jeremias Gotthelf erschien im Jahr 1837 als erstes Buch von Albert Bitzius (1797-1854), Pfarrer in Lützelflüh BE. Bitzius gab auch seine übrigen Bücher unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf heraus. Die Seitenangaben folgen der Ausgabe der Büchergilde, Zürich/Wien/Prag 1937. Diese ist mit den bekannten Holzschnitten von Emil Zbinden versehen.

Die in Gotthelfs "Bauernspiegel" geschilderte Fremdplatzierung von armen Kindern als Kinderarbeiter bei Bauern war in diesen Abläufen (mit öffentlicher "Mindersteigerung" an die billigsten "Pflegeplätze") bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Bern eine soziale Realität. Doch gab es Verdingkinder unter diesem Begriff und in ähnlichen Verhältnissen in der ganzen Schweiz bis zur Mechanisierung der Landwirtschaft, etwa bis Ende der 1960er Jahre, und vereinzelt noch später. Seit den 1950er Jahren wurden diese Kinderarbeiter, die früher auch "Kostkinder", "Güterkinder" oder "Hüterkinder" genannt wurden, meist "Pflegekinder" genannt. Auch Heimkinder mussten in diesem Zeitraum oft schwere Arbeit verrichten und wurden gelegentlich auch an private Bauernbetriebe "ausgeliehen". Gotthelfs Schilderung des Lebens eines Verdingkinds ist kritisch und empört sich über die geschilderten Verhältnisse, ist aber nicht frei von manchen Vorurteilen der damaligen Zeit, etwa betreffend das "Selbstverschulden" der "unwürdigen" Armen; auch war der Schriftsteller Mitbegründer der Erziehungsanstalt Trachselwald, deren Zöglinge ebenfalls kein leichtes Leben hatten.

"Die Mutter trug einen grossen Bündel Zeug, hatte mir ein neues schönes Halstuch umgebunden und erzählte gar viel, wie ich es gut haben, wieder zu Rossen, Kühen und Pferden kommen werde usw. So war's mir leicht ums Herz, fast wie den Vögelein ringsum, und wohlgemut kam ich am Orte unserer Bestimmung an.
Dort waren bereits viele Leute versammelt. Leute, welche Kinder brachten; Leute, die Kinder an Kost nehmen, Eltern, welche ihre Kinder der Gemeinde auf den Hals werfen wollten, denen man die heimliche Freude ansah, ihrem eigenen Fleisch und Blut bald loswerden zu können. In einer Ecke sass ein Weib, zwei schöne Mädchen neben sich; alle drei weinten bitterlich und hielten einander immer wieder um den Hals. Es war eine Witwe, welche vor die Gemeinde musste, um entscheiden zu lassen, ob man ihr lieber die Kinder verdingen oder den Hauszins geben wolle. Sie war verleumdet worden von einer guten Freundin, welche ein Klappermaul und Zutritt in viele Häuser hatte, eben ihres Maules wegen. Eine Frau Gemeindrätin hatte diese böse Nachrede aufgefasst, sie ihrem Mann hinterbracht, dieser das arme Weib gar übel angefahren und ihr alle Hoffnung abgesprochen, die Kinder behalten zu dürfen. Zum Glück war er diesmal nicht allein Meister; die so deutlich an den Tag tretende Mutterliebe trug den Sieg davon, und die zwei schönen Mädchen blieben am Herzen der Mutter.
Es war fast wie an einem Markttag. Man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück; fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt. Ein Vater, der vier Kinder brachte, rief dieselben aus und jeden Vorübergehenden herzu, um ihm eines oder das andere aufzudringen; er machte es ärger als die Weckenfrau an ihrem Korbe mit ihrer Ware."
(S.77-78)

"Die Steigerung ging langsam vor sich; die ersten auf dem Rodel (Verzeichnis) kamen zuerst, die, welche neu zu verdingen waren, zuletzt. Der Mittag kam, die Sonne brannte heiss, die Kinder wurden hungrig, die kleinen besonders durstig; den einen wurde etwas gekauft, das machte die andern nur hungriger und durstiger, so dass nach und nach vor Weinen und Schreien man kaum sein eigenes Wort verstand. (...)
Die Witwe und ihre Kinder wurden weggerufen. Nach ihnen, die mit freudestrahlenden Augen zurückkehrten, kamen wir. "La g'seh, wer wott dä Bueb, er gar e tolle u-n-e muntere, u-n-isch guet kleidet, er isch e halbe Chnecht oder e ganzes Chingemeitschi!" (Lasst sehen, wer will diesen Knaben, er ist gesund und munter, und gut gekleidet, er ist ein halber Knecht oder ein ganzes Kindermädchen!) - so wurde ich ausgerufen. Ich wurde betrachtet, für und wider geredet; ein zerlumpter Mensch bot endlich auf mich, das heisst er erklärte für einige Kronen mich zu nehmen. Wahrscheinlich rechnete er darauf, mit meinen Kleidern seine eigenen zerlumpten Kinder zu bekleiden. Diesem jedoch wollte man mich nicht geben; man bot mich wieder an und strich mich aus. Ich war allerdings ein wackerer Bube, gross, breit gewachsen, nur etwas blass, und hatte viele Kleider, was nicht vergessen wurde. Man beschaute mich von neuem, redete hin und her; einer nach dem anderen trat an mich heran; mir wurde bange, ich fing an zu weinen, hängte mich an die Mutter und wollte fort. Endlich beredete man einen ziemlich guten Bauern, mich zu nehmen, um bei ihm Kindemeitschi zu werden, da er ja eines nötig hätte, weil das frühere ihm abgehandelt worden sei. Er liess sich dazu verstehen, nahm mich um zehn Kronen jährlich mit einer Mahnung, mich gut zu halten. Weil man mich jetzt so gut angebracht, wurden wir entlassen."
(S.78-80)

Sie hatten fünf Kinder, von denen das älteste ein Knabe und ein Jahr älter als ich, das jüngste, zu dem ich eigentlich sehen sollte, ein Jahr alt war. Die ersten Tage liess man mich so ziemlich machen, was ich wollte, um mich ans Haus zu gewöhnen und das Heimweh zu verhüten; auch war mir recht wohl. Ich freute mich im Stall an Kühen und Rossen; nur eines ärgerte mich, dass man mir nämlich nie den Taufnamen gab, sondern dass ich nur der Bueb hiess. Später erst merkte ich, dass ein auf ein Gut verdingtes Kind jeglichen Namen verliert, um Bueb oder Güeterbub zu heissen; d.h. um ein Mensch zu werden, der Niemandem mehr angehört auf der ganzen Welt als dem Gut, auf welchem er verpflegt wird. Solche Dinge scheinen den meisten Menschen Kleinigkeiten; allein sie haben eine weit tiefere Bedeutung als die Menge glaubt. Fragt nur euch selbst: Was klingt lieblicher und Zutrauen erweckender: Johannesli, Peterli, Christeli oder Bueb? Beim Spielen mit den Kindern musste ich fast immer nachgeben; allein ich war gutmütig und tat es gerne; freute es mich ja gar zu sehr, bei Kinder zu sein und spielen zu können. Doch am dritten Abend ward mir eine Wunde ins Herz geschlagen, die, immer wieder aufgerissen, nie vernarbte und mich zu einem ganz eigenen Menschen machte. Schon war ich ganz einheimisch und wohlauf, als ich eben am dritten Abend den Bauern vor dem Stall sitzen sah, gerade wie der Vater es auch zu tun pflegte; ich spielte nicht weit davon und der nachälteste Knabe stand beim Vater. Der Anblick heimelte mich; ein unwillkürlicher Zug riss mich zum Bauern hin; ich kletterte auf seine Knie und fragte ihn: 'Ätti! hesch mi o lieb?' Ehe dieser noch antworten konnte, riss mich der Knabe herunter, stiess mich weg und sagte:'Das isch nit dy Ätti, du bisch nume der Bueb!' und die anderen Kinder kamen auch herbei, umringten den Ätti, stiessen mich weg, wiederholten: 'Du bisch nume der Bueb, das isch nit dy Ätti, du hesch kei Ätti!' - Und der Bauer lachte herzlich über seine Kinder, die ihn so lieb hätten, dass er nicht auch mein Ätti sein sollte! Er sah nicht, wie mein ganzes Wesen sich erschütterte und grosse Tränen die Backen herabströmten.
Das isch nit dy Ätti, du hesch kei Ätti, du bisch nume dr Bueb! Diese Worte tönten in meinem Herzen fort und fort, zerrissen es, und rissen einen Vorhang von meinen Augen weg: nun kam es mir zum Bewusstsein, dass ich hier keinen Ätti habe, kein Kind, sondern nume der Bueb sei. Ich hatte ein Herz voll Liebe, hätte so gerne alle geliebt; aber meine Liebe wollte man nicht, Liebe gab man mir nicht, glaubte mehr als genug zu tun, wenn man mir zu essen gab. Diese Liebe, die niemand wollte, schloss sich ein in das Herz und verschloss es; ich fühlte mich allein auf der Welt, wurde ernst, bitter, dachte über alles für mich selbst nach, schien unfreundlich, mürrisch; aber niemand sah, wie so oft, wenn ich allein war, eine Wehmut über mich kam, die in einen Tränenstrom sich auflöste, der fast nicht versiegen sollte."
(S.81-82)